Pat Binder
Text für den Katalog der 5. Biennale von Havanna 1994
Von Gerhard Haupt
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Wenn jemand aus Argentinien kommt und Bücher zu einem konstitutiven Element seiner Kunst gemacht hat, erliegt man allzuleicht der Versuchung, an Jorge Luis Borges, den Giganten des Geistes, und die Bibliothek von Babel zu erinnern. Der Vergleich kann allerdings schnell zum Klischee geraten. Tatsächlich aber gibt es in der künstlerischen Arbeit von Pat Binder durchaus Parallelen zur komplexen Gedankenwelt ihres großen Landsmannes. Denn das Buch hat auch für sie die Bedeutung eines holistischen Zeichens mit unzähligen Assoziationsmöglichkeiten, so wie es bei Borges in der Unendlichkeit jener sechseckigen Galerien der Bibliothek von Babel zugleich für das Ganze des Universums und das Schicksal des Einzelnen steht. Bücher sind im Werk Pat Binders zivilisatorische Sinnbilder voller Ambivalenz und Kristallisationspunkte der Welt im Kleinen mit ganz eigenen formalen Ausdrucksmöglichkeiten.

Ihre Installationen entstehen als Resultate ritueller Akte. Dabei werden neben vielen anderen Elementen eben auch Bücher, die hehren Ikonen der Kultur, einem Prozeß anscheinend respektloser, in Wirklichkeit aber persönlich schmerzlicher Zerstörung und Umwertung unterzogen. Durchbohren, Übergießen, Ordnen und Verbinden sind weit mehr als handwerkliche Verrichtungen. Sie werden zu Handlungen von symbolischer Dimension. Aufgeschlagene Bücher definieren Räume und Zeitabläufe. Im Kontext einer vielbeschworenen Zeitenwende evoziert der ungewöhnliche Umgang mit dieser Grundsubstanz Zweifel am Sinn und Fortbestand der festgeschriebenen Wahrheiten unserer Zivilisation. Ökoglyphen aus Holzstückchen vor oftmals gotischen Lettern führen das Verhältnis zwischen Kultur und Natur auf einen idealen Urzustand zurück und machen zugleich dessen unwiederbringliche Auflösung deutlich.

Als wenn ihr die Ästhetik der dabei entstandenen Gebilde noch zu subtil und angenehm erschien, wurde Pat Binders Arbeitsweise zusehens radikaler. Wenn sie jetzt die aggressive, klebrige Substanz des Öls über Buchseiten gießt, verbreitet sich Endzeitstimmung. Allzuoft haben wir das verschmutzte Gefieder todgeweihter Seevögel nach Tankerhavarien gesehen, zu präsent sind die Bilder in Brand geschossener Förderstellen, als daß noch ein ungetrübter Gedanke an die Kostbarkeit des »schwarzen Goldes« aufkommen könnte. Die kontaminierende Materie begräbt jede Vielfalt unter ihrer tristen Homogenität. Assoziationen an die Nivellierung der Kulturen auf der zusehens vernetzten und vernutzten Welt sind durchaus beabsichtigt, wenngleich sich eindimensionale Deutungen in jedem Falle verbieten. Pat Binder arbeitet mit Ölspuren auch im Sinne einer Ironisierung traditioneller künstlerischer Mittel und grenzt mit dem Eintauchen von Objekten in das zähe Schwarz oder eine Überlagerung über andere, weniger dichte Flüssigkeiten Bedeutungsebenen voneinander ab. Es geht ihr nie um den äußeren Effekt, sondern um eine vielschichtige Reflexion über Kunst und einen weiten Begriff von Kultur in einer zusehens desolaten und labilen Welt, deren immer weniger durchschaubare Prozesse den Einzelnen und die Allgemeinheit verunsichern und vor Fragen stellen, auf die es kaum noch befriedigende Antworten zu geben scheint. Das eigene Schaffen ist ein Versuch, den Zweifeln nicht zu erliegen und weiterhin nach einem Sinn des gemeinschaftlichen und des persönlichen Tuns zu suchen.

Veröffentlicht in:
Katalog 5. Biennale Havanna, Havanna 1994, Seite 207
und: Katalog zur Ausstellung »Die 5. Biennale von Havanna«, Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen 1994, Seite 40
©  Gerhard Haupt / Website: Pat Binder