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Pat Binder: Fremde Brocken - eigene Splitter

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»Der Migrant, dieser Mensch der heranrückenden heimatlosen Zukunft, schleppt (...) Brocken der Geheimnisse aller jener Heimaten in seinem Unterbewußtsein mit, die er durchlaufen hat, schreibt Vilem Flusser in »Bodenlos«.

Ich bin in Argentinien geboren, habe dort studiert und zu meinem künstlerischen Ausdruck gefunden. Meine Großeltern waren auch Migranten. Sie kamen aus Siebenbürgen und dem Banat: von Migranten gegründeten und verlassenen Heimaten; Heimaten, die es heute gar nicht mehr gibt.

Zu einem Fortbildungsstudium ging ich zuerst nach Kanada. Danach führten mich das Schicksal und persönliche Entscheidungen eine Weile nach Deutschland, anschließend nach England und jetzt, vor kurzem, in die Schweiz. Die erste Entwurzelung tat weh, denn die vielen haardünnen Wurzeln, die am feuchten, fruchtbaren Humus der argentinischen Pampas hingen, wurden abgerissen. Als die Wunden heilten, drangen die Wurzeln aber nicht wieder in neuen Boden, sondern es entwickelte sich bei mir ein Art Luftwurzel, die ihre seelische Nahrung aus all dem, was mit ihr in Kontakt kommt, schöpft und nichts umklammert. Diese Wurzel »schleppt« auch keine »Brocken« mit sich, sondern läßt sich eher von den in verschiedenen Heimaten aufgenommenen Geheimnissen beflügeln.

Migration sei eine schöpferische Tätigkeit, sagt auch Flusser. Aber gleichzeitig sei es ein Leiden. Finde ich auch, nicht nur wegen der schmerzhaften Entwurzelung. Als Fremder in der Fremde entdeckt man zuallererst das Fremde in sich selbst. Das Selbstverständnis der eigenen Identität zersplittert: Wer bin ich? Wie verstehe ich mich selbst? Bin ich tatsächlich anders? Was ist denn eigentlich dieses Anderssein?

In Argentinien hielt ich eine ausländische Herkunft für einen Vorteil, eine Bereicherung. Man erlebte den dortigen Alltag mit all seiner Leidenschaft und Gewalt, mit seinen Widersprüchen, und hatte gleichzeitig Zugang zu einer erweiterten Weltanschauung durch die Sprache und Kultur seiner Vorfahren. Man war stolz, auch Italiener, Deutscher, Jude oder Libanese zu sein.

Aber hier in Europa erscheint eine fremde Herkunft eher als ein Nachteil: entweder trifft man auf eine exotismusbedürftige Neugierde, wenn man als harmloser Zugvogel in Erscheinung tritt, oder aber auf eine klischeebeladene, abwertende Haltung, sobald die Vermutung aufkommt, man könnte doch einen etwas längeren Aufenthalt vorhaben.

Was passiert dann mit den eigenen Identitätssplittern?

Um den Schmerz eines weiteren Zerbrechens zu vermeiden, neigt man oft dazu, in Rollen oder Masken zu schlüpfen, die anscheinend unserer Identität einen Halt geben, tatsächlich aber nur die Vorstellungen und Vorurteile der - von uns aus gesehenen Anderen bestätigen. So werden die vermeintlichen Krücken letztendlich zu Kommunikationshürden auf der Laufbahn der gegenseitigen Verständigung.

Durch meine Arbeit wurde mir aber bewußt, daß meine fragilen Identitätssplitter sich doch noch recht gut verteidigen können: ihre Glaskanten sind nämlich beim Zersprechen sehr scharf geworden. Scharf im Beurteilen und um Einspruch zu erheben. Sie lassen sich auch ohne Schwierigkeiten mit anderen Bedeutungsfragmenten kombinieren. Dabei sind sie im Zeichen dieser »heranrückenden heimatlosen Zukunft« zu einem unentbehrlichen Teil meines eigenen Welt- und Selbstverständnisses geworden. Mein Wunsch ist, sie mögen zu dem der anderen Andern auch etwas beitragen.


©  Pat Binder / kontakt

Veröffentlicht in:
neue bildende kunst, Berlin, Heft 4/5 1995, Seite 48
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